Die Gier im Blick

von Birgit Walter
Theater des Westens: Helmut Baumann und "Ein Käfig voller Narren"

Man muß den Baumann gesehen haben. Wie er beleidigt den Kopf dreht mit dem Satz: "Du hast es einmal geliebt, mir Fußkettchen anzulegen." Wie er seinem erwachsenen Ziehkind mütterlich das Hemd in die Hosen stopft und seine Beine in schwarzen Seidenstrümpfen übereinanderwirft. Wie er seine beklunkerten Finger auf das Handtäschchen trommeln läßt und sich in einem "Ehekrach" zu dem Vorwurf versteigt: "Und wo warst du, als ich mich in der Küche zerfetzte?" Man muß es erlebt haben, wie Helmut Baumann (Hauptrolle, Regie) aus einem großen Musical ein Ein-Personen-Stück mit 40köpfiger erstklassiger "Garnitur" entwirft. Dann begreift man, wie nachhaltig sein sensationeller Auftrag aus Zaza, die Tunte, vor zehn Jahren wirkte. 1985 hatte "Ein Käfig voller Narren" ("La Cage aux Folles") im Theater des Westens Premiere, seit Sonnabend steht das grandiose Travestie-Spektakel von Jerry Herman und Harvey Fierstein wieder auf dem Spielplan und hätte die Klasse, sich dort - nach bisher 700 ausverkauften Vorstellungen - auf Ewigkeit einzurichten. Tauglich für alle Bühnen der Welt. Das liegt zunächst an der Besonderheit des Stoffes. Endlich mal keine Variation der sattsam bekannten Musical-Muster von "Ein Star wird geboren" oder "Boy trifft Girl, Liebe beginnt, verheddert sich und endet happy". Mal ein anderes Milieu, eine wirkliche Problematik, eine richtige Geschichte und dazu die Suggestion: So könnte es sein, das närrische, bittere und glamouröse Leben auf der Bühne und dahinter. Hier wird es vorgeführt von dem alternden schwulen "Ehepaar" Georges, Besitzer eines Travestie-Nachtclubs an der Riviera, und Albin, der sich als Hauptattraktion Zaza allnächtlich auf dieser Bühne feiern läßt. Zur Familie gehört noch George's Sohn Jean-Michel, hervorgegangen aus einem früheren "Fehltritt". Als Jean-Michel heiraten will und den konservativ-prüden Eltern seines Mädchens eine "anständige", also tuntenfreie Familie vorstellen will, wird das Chaos losgetreten. So amüsant, daß einem die Lachtränen das Make-up ruinieren und mit solchem Tempo, daß die drei Stunden nach 30 Minuten vorbei sind. Bombastische Roben aus Pelz und Satin, winzige Mieder aus Leder und Lack, Straß-Strapse und Feder-Boas (Kostüme: Uta Loher) besorgen den Schauwert des Stückes, nur noch überboten von der Pracht muskulöser Männerkörper. Der schönste ist der von Keith Pillow, der als Zofe Jaqueline statt als Butler Jacob gehen will und dabei schrille Kabinettstückchen liefert. Wie die anderen Travestie-Boys hat er Gier nach Leben im Blick und Tanzfeuer in den Gliedern (Choreographie und Co-Regie Jürg Burth). Den ausgleichenden Part in dieser Gesellschaft schräger Vögel gibt Fritz Hille als Georges, der feinsinnig und instinktsicher dafür sorgt, daß diese Milieustudie in gefährlicher Nähe zur Klamotte nicht ins Peinliche abrutscht. Standing ovations für eine bravouröse Leistung, die beste Musical-Show in der Stadt. +++

Berliner Zeitung
Datum: 13.03.1995
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